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Von Zugezogenen und Dagewesenen.

Die USA sind ein Einwanderungsland, das ist ein Allgemeinplatz. Aber wer sind die Zugezogenen und wer wird als schon dagewesen angesehen? Und was sind die Grenzen von dem, was man als Migration bezeichnet? In der Literatur ist dieses nach wie vor höchst politische Thema seit jeher Grundlage für zentrale Romane der US-Amerikanischen Literaturgeschichte. Von Upton Sinclair, John Fante, Toni Morrison und James Fenimore Cooper zu aktuelleren Autor_innen wie Imbolo Mbue, Chimanda Ngozi Adichie, Paul Beatty und vielen weiteren.
Kürzlich sind drei neue Bücher ins Deutsche übersetzt worden, die in diesem Kanon zukünftig ihren festen Platz haben werden, weil sie sich dem Thema auf unkonventionelle und eindringliche Art nähern. Eine Renaissance des Native Writings wurde ausgerufen, nach den Debütromanen von Terese Marie Mailhot und Tommy Orange, dessen Buch Dort Dort nun auf Deutsch erschienen ist. Weil sie die verschiedenen Perspektiven der heute lebenden Natives einfangen und dabei die Unmöglichkeit der abschließenden Repräsentation reflektieren. Ocean Vuong hat mit seinem Prosadebüt Auf Erden sind wir kurz grandios einen kleinen Hype ausgelöst, da er die Erfahrungen mehrerer Generationen vietnamesischer Einwanderer in den USA grandios poetisch erzählt. Und schließlich Joshua Cohen, der im letzten Jahr mit dem Buch der Zahlen bekannt geworden ist und nun in Auftrag für Moving Kings über das nicht immer ganz freiwillige Umziehen schreibt, als Beruf und als prägende Erfahrung eines jungen israelischen Mannes in Manhattan.

Bei Tommy Orange fehlt zuallererst die Vielstimmigkeit auf, von der einem beinahe schwindelig werden kann. Die gute Art von Schwindel allerdings, die einen beeindruckt und bewegt zurücklässt. In kurzen Kapiteln erzählt er die Geschichte von insgesamt 12 Personen, 12 Native Americans, die wie er in Oakland leben oder anderweitig mit dieser Stadt in Verbindung stehen. Darunter ist Dene Oxendene, der mit einer alten Videokamera die Geschichten von Angehörigen des Cheyenne und Arapaho Tribes einfangen will. Oder die beiden Schwestern Opal Viola Victoria Bear Shield und Jaquie Red Feather, die beide auf unterschiedliche Weise von ihrer Vergangenheit geprägt sind, von den Tagen, als ihre Mutter mit ihnen und vielen weiteren Natives auf der Gefängnisinsel Alcatraz ein Protestcamp errichtet hat. Nicht nur das große und schreckliche Finale des Romans, ein „Powwow“, also ein traditionelles Fest im Stadion von Oakland verbindet die zwölf Personen, sondern auch eine gemeinsame Geschichte, die nicht unwesentlich von Gewalt und Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und Zerstörung geprägt ist. Aber darum geht es gerade: In manchen Sätzen wird der Rassismus und die genozidale Vergangenheit der US-amerikanischen Gesellschaft so pointiert wie selten auf den Punkt gebracht, es bleibt zugleich jedoch immer deutlich, dass die Menschen, die hier porträtiert werden, sich darauf nicht reduzieren lassen.

Vuongs Buch ist ein Brief an die eigene Mutter, die diesen Brief als Analphabetin nie selbst wird lesen können. Zuvor nur für seine Lyrik bekannt, hat Ocean Vuong nun einen wunderbaren Roman geschrieben: In Auf Erden sind wir kurz grandios verbindet sich der raue und heftige Inhalt mit einer poetischen Form, die vom Widersprüchlichen lebt. Erzählt werden Szenen von einer schlagenden aber liebenden Mutter; von einer Großmutter, die sich mit Marines im Vietnamkrieg anlegt; von Vuong als jungem Mann, der sich auf einer Tabakplantage in seinen Kollegen verliebt; vom abendlichen Familienleben, in dem die müden Schultern der Mutter nach der langen Schicht im Nagelstudio massiert werden; von der eigenen Unsicherheit, Scham und Verzweiflung. Das Brutale und das Schöne stehen hier erschreckend nah beieinander und bilden ein bewegendes Ganzes.

Der Auftrag für Moving Kings lässt sich nicht auf ein Genre festnageln, die Migrationen im Kleinen wie im Großen ziehen sich aber durch das gesamte Buch. David King, ein amerikanischer Jude dessen Vater den Holocaust überlebte, ist mit einer Umzugsfirma reich geworden. Da sie sich statt auf normale Umzüge auf Zwangsräumungen spezialisiert hat, ist der Roman zugleich als Sozialstudie des heutigen New Yorks zu lesen. Mit viel Humor und ebenso viel Ernsthaftigkeit schreibt Cohen dann über den Neffen von David King, der kürzlich seinen Militärdienst in Israel beendet hat und nun aus dem Gazastreifen nach Manhattan kommt, um bei King in der Firma einzusteigen. Der Roman hat Tempo und Witz, den der Deutschlandfunk in der Tradition von David Foster Wallace sieht und liest sich ganz hervorragend ohne trivial zu werden!