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Ich wählte die Freiheit

Geschichte einer afghanischen Familie

Erschienen am 03.02.2003
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446202849
Sprache: Deutsch
Umfang: 287 S.
Format (T/L/B): 2.8 x 22 x 15 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Mariam Notten erzählt die Chronik ihrer afghanischen Familie: von der blutigen Ermordung der Urgroßmutter um 1900, die in den Verdacht der Untreue gerät, von der Großmutter, die sich in ähnlicher Situation durch einen Mord rettet, vom Schicksal der Mutter, die ihr Kind verliert und deshalb von der Familie ihres Mannes geächtet wird, bis hin zur Nichte, die in Berlin als moderne junge Frau heranwächst. Eine spannende und bewegende Geschichte von Frauen, die ihr Schicksal trotz widrigster Umstände selbst in die Hand nehmen.

Leseprobe

BLUTRACHE Ihr Blut sickerte durch den rot gemusterten Teppich in den Lehmfußboden. Gierig fraß es sich in das zarte Gewebe ihres Schleiers, der ihr vom Kopf gerutscht war. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, einen Schrei auszustoßen. Der Mann im Turban mit dem angegrauten Bart hockte neben ihr, an seiner Seite die alte britische Militärflinte. Ohne Gemütsregung, ein wenig sorgenvoll vielleicht, betrachtete er seine Frau. Einer ihrer schwarzen Zöpfe war, als ihr Körper auf dem Boden aufschlug, über ihrem Gesicht zu liegen gekommen. Der Mann hatte ihr die Augen geschlossen, die ihn eben noch beunruhigt angesehen hatten. Es war still im Haus. Naser und Delawar, die beiden Söhne, schliefen bei der Tante zwei Häuser weiter. Niemand kam, um nachzusehen, wer geschossen hatte. Schüsse hatten bei den Paschtunen immer ihren Grund. Die ganze Nacht verharrte Nangin Khan in seiner Hockstellung, stützte die Arme auf die Knie und wachte über die Tote. Die schweren Hände mit den verhornten Fingerkuppen baumelten wie leblos vor ihm in der Luft. Als die Kälte ihm in die Knochen kroch, wickelte er seinen großen Schal um sich. Sie war halb so alt wie er und hätte ihm noch mehrere Söhne schenken können. Vielleicht auch eine Tochter, die den Haushalt hätte führen können, wenn Hossai in die Jahre gekommen wäre. Hossai würde nie in die Jahre kommen, und eine Tochter würde es nicht geben. Er verscheuchte das leichte Bedauern, das sich in das klare Gefühl der Unausweichlichkeit des Geschehens drängen wollte. Es musste sein, wie es gekommen war. Er hatte keine andere Wahl gehabt.Als das Morgengrauen hereinbrach, ging er hinüber zu seiner unverheirateten Schwägerin. Sie hatte den Schuss in der Nacht gehört, aber nicht gewagt hinüberzulaufen. Sie begnügte sich damit, die aufgeschreckten Kinder zu beruhigen und auf den Morgen zu warten. Nangin Khan bat sie, eine ältere Verwandte zu holen, damit sie die Leiche waschen und für das Begräbnis noch am selben Tag vorbereiten konnte. Sie hat mein Gewehr geputzt, und es hat sich ein Schuss gelöst und sie direkt in die Brust getroffen. So erklärte Nangin Khan den unerwarteten Tod seiner Frau, und niemand stellte Fragen. Man würde den Grund erfahren und man würde nicht darüber sprechen. Nangin Khan genoss einen untadeligen Ruf, seit Jahrzehnten war er ein angesehenes Mitglied der Loja Dschirga1. Für das, was der Tat vorangegangen war, gab es einen Zeugen. Vielleicht hätte er nicht geschossen, wenn dieser Zeuge nicht gewesen wäre. Er wohnte in derselben Gasse, und sie waren gemeinsam von der Moschee nach Hause gegangen. Nach dem Abendgebet waren sie noch lange mit den anderen Männern zusammengeblieben, um über Geschäfte zu reden und über Politik. Wieder einmal hatte die Zentralregierung in Kabul versucht, sich in die Angelegenheiten der Paschtunen zu mischen. Der König wollte auf Geheiß der Briten (die Afghanistan als eine Art Protektorat hielten) eine Straße durch ihr Gebiet bauen. Die Männer waren empört. Gab es erst eine Straße, würden bald Polizisten und Richter folgen, und über kurz oder lang würden sie die Paschtunensöhne in ihre Armee einziehen, damit sie Krieg führten gegen ihr eigenes Volk. Als Nangin Khan und sein Nachbar in die schmale Sackgasse eingebogen waren, die zu ihren jeweiligen Häusern führte, war ein junger Mann mit gesenktem Kopf wie ein Schatten an ihnen vorbeigehuscht und hatte etwas gemurmelt, das einem Gruß nur entfernt ähnelte. Wie tief er den Kopf auch senkte, das Mondlicht ließ sein Gesicht erkennen. Er wohnte nicht in ihrer Gasse. Im Nachhinein erinnerte sich Nangin Khan (und wohl auch sein Nachbar), dass der Sohn des Sardat Khan als Einziger aus dem Dorf an jenem Abe Leseprobe